
Rita Siegmund - Umsiedlung und Flucht
![]() |
Unsere Mutter, Rita Siegmund, geborene Kuknat, besucht 2004 Ihren Schwager Rudolf Sollath und Ihre Schwägerin Ursula, geborene Siegmund, in Hallein. Am Abend, in gemütlicher Runde und bei reichlich grünem Veltliner, beginnt Sie zu erzählen: |
Der Überlieferung nach ist die Familie Kuknat aus Ostpreußen nach Litauen eingewandert. Wann das war, ist wohl nicht mehr feststellbar. Meine Großeltern waren Ludwig und Maria Kuknat, eine geborene Kaufmann, meine Eltern waren Oskar und Anna, eine geborene Rabenstein. |
![]() |
![]() |
Geboren wurde ich am 7. Juli 1925 in Kybarteij (Kybarten), einer Kleinstadt an der Širvinta (Schirwindt), dem Flüsschen, das damals die Grenze zu Ostpreußen bildete, heute ist das die Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad. |
Mein Vater hatte zwei Brüder, Karl und Adolf, und zwei Schwestern, Helene und Auguste. Tante Auguste wohnte im Haus neben uns und da verkroch ich mich, wenn ich mich nicht nach Hause traute, weil ich wieder etwas angestellt hatte. Meine Mutti schalt mich dann eine "Jungensmarjell". |
![]() |
![]() |
Ihre Eltern, also meine anderen Großeltern, waren August und Katharina Rabenstein, eine geborene Hoffmann. Meine Mutti hatte drei Schwestern, Emma, Olga und Ida und einen Bruder, Hans. |
Onkel Hans und Tante Emma wohnten später in Lebenstedt. Tante Emma war die Mutter von meinem Cousin Richard der aus erster Ehe einen Sohn, Arno, hat und der in zweiter Ehe meine Jugendfreundin Friedel Derwell heiratete.. |
![]() |
![]() |
Ihr jüngster Sohn ist mein Cousin Rudi, der eine Zeitlang in Berlin wohnte, als wir schon in Rudow waren. |
Tante Ida lebte nach dem Krieg in Essen und da haben wir sie einmal besucht, als Frank noch ganz klein war. Tante Olga lebte später in Lendringsen und in ihren letzten Jahren im Haus neben meiner Mutti am Eisborner Weg. |
![]() |
![]() |
Da war unser Vater, Oskar Kuknat, beschäftigt, aber nicht als Beamter, weil wir der deutschen Minderheit angehörten und Litauen seit seiner Unabhängigkeits- erklärung von 1918 sehr auf nationale Eigenständigkeit bedacht war. |
Deshalb lernten wir in der Schule auch kein Deutsch, das lernten wir nur in der Sonntagsschule. |
![]() |
![]() |
Alle meine Freundinnen waren Deutsche und ich kann mich nicht besinnen, dass die Familien Kuknat und Rabenstein engeren Kontakt zu litauischen Familien gehabt hätten. |
      Es gab auch einige Juden, aber die waren sehr arm und wirkten auch sehr fremdartig, sie lebten als Hausierer und Lumpensammler und waren weder bei den Litauern noch bei den Deutschen gut gelitten.
Ich hatte zwei ältere Brüder, Edi und Rudi, die sind im Krieg geblieben.
![]() |
Rudi war sehr eigen und hat all seine Sachen sehr pfleglich behandelt, er ist 1942 gefallen. |
Edi war das ganze Gegenteil, aber auch er musste in den Krieg. Was aus ihm geworden ist, haben wir nie erfahren. |
![]() |
      Unser Vater war ein sehr liebevoller Mensch. Ich kann mich nicht erinnern, dass er je laut geworden wäre.
![]() ![]() |
Wir lebten in einem kleinen, neu gebauten Holzhaus auf dem Grund meiner Großeltern Rabenstein. Gleich nebenan bewohnte meine Tante Auguste ein etwas größeres Haus, das etwa zur gleichen Zeit entstanden war. Zwischen den Häusern befand sich ein Brunnen und hinten im Garten waren Kaninchenställe, beschattet von einigen Obstbäumen. |
      Unsere Mutti war klein, drahtig und viel strenger als unser Vater. Ihr rutsche auch schon mal die Hand aus. Dennoch war die Religion ihr und unser Lebensmittelpunkt. Es war allerdings eine sehr altertümliche Religiosität, durchsetzt mit allerlei heidnischem Brauchtum. Am Ostersamstag zum Beispiel wurde streng gefastet, das heißt, es gab nichts zu essen. Noch vor Tagesanbruch am Ostersonntag machten sich die Frauen aus dem Ort in einer lautlosen Prozession auf ans Ufer der Schirwindt, um das Osterbad zu nehmen. Während des Bads und auf dem Hin- und Rückweg durfte nicht gesprochen werden, was für mich die größte Herausforderung war, schlimmer noch als das eiskalte Wasser. Dann ging es in die Kirche und erst nach dem Gottesdienst gab es wieder etwas zu essen.
Im Mai 1940 wurde ich in Kybarten konfirmiert. Im folgenden Jahr wurden wir umgesiedelt: "Heim ins Reich". Nach dem Überfall auf Polen und dem Nichtangriffspakt mit Russland sollten die "Volksdeutschen" aus dem Baltikum in den von Deutschland besetzten Gebieten Polens angesiedelt werden. Das hier Polen enteignet und vertrieben worden waren, wurde stillschweigend übergangen. |
![]() |
![]() |
Wir, einige Verwandte und einige Nachbarn, unter anderem die Familien Ross und Sagromski, kamen nach Scharfenwiese, das früher Ostroleka hieß. Hier ging ich zum ersten Mal in eine richtige deutsche Schule, bis ich im Februar 1943 zum Reichs- |
arbeitsdienst eingezogen wurde. |
![]() |
      Meine älteren Brüder waren da schon nicht mehr bei uns. Später haben wir erfahren, dass Rudi schon im November 1942 gefallen war, von Edi wussten wir nichts.
![]() ![]() |
Meine Schwester Hilla war gerade zehn und unser kleiner Bruder Helmut acht Jahre alt und unserer Mutti fiel es schwer sich um die Familie zu kümmern, denn es ging ihr gesundheitlich sehr schlecht. Von Amts wegen sollte ihr deshalb eine ausländische Hilfskraft zugeteilt werden, was wohl eine schamhafte Umschreibung für eine polnische Zwangsarbeiterin war. Unser Papa konnte aber bei der zuständigen Stelle nachweisen, dass er noch eine erwachsene Tochter hatte, die die Pflege übernehmen konnte und deshalb durfte ich wieder zurück nach Scharfenwiese. |
      1944 mussten wir vor der anrückenden Front aus Scharfenwiese fliehen und kamen auf das Gut Konitten bei Lidzbark Warminski (Heilsberg). Ich musste nicht auf dem Feld arbeiten, sondern war in der Molkerei untergebracht. Es gab aber für alle wenig zu essen. Einmal habe ich Butter auf die Seite gebracht und in einem Feld versteckt da hat sie irgend ein Tier gefressen und wir hatten wieder nichts.
      Um die Weihnachtszeit waren alle Wagen schon für die Flucht gerüstet aber wir konnten nicht weg, weil wir keine Fahrer hatten.
      An diesem Weihnachtsfest habe ich unseren Papa das letzte Mal gesehen. Er musste von dort ins Eisenbahnlager Olsztyn (Allenstein).
      Sylvester haben wir noch unter den Deutschen gefeiert. Aber die Front kam immer näher und statt eines Sylvesterfeuerwerks hörten wir, wie die Stalinorgeln immer näher kamen. Wir konnten nicht mehr weg und hatten große Angst.
      Im Januar 1945 kamen dann die Russen und haben uns aus dem Haus getrieben. Wir sollten Richtung Masuren hinter die Front gehen, wo die rote Armee Polen von der deutschen Besatzung befreit hatte. Wir durften aber immer nur bis 6 Uhr fahren, haben in leeren Gehöften übernachtet und uns von Eingemachtem ernährt, das wir in manchen leeren Kellern fanden.
      Auf einem leeren Bauernhof bei Szczytno (Ortelsburg), haben wir uns vor den Russen versteckt und den Frühling erwartet. Wir hatten nichts zu essen aber große Angst. Die Russen haben nach Mädchen gesucht und Hilla war zwar erst zwölf, aber sehr kräftig. Als sie dann kamen, hat der zehnjährige Helmut uns zugerufen: "Versteckt euch, die Russen kommen!"
      Ich versteckte mich im Kartoffelkeller, der war nicht sehr tief aber ich auch sehr schmächtig. Der Soldat kroch mit aufgepflanztem Bajonett da hinein, hat mich aber nicht gesehen. Aber dann wurden wir bei der Feldarbeit von den Russen geholt, auf Lastwagen gepfercht und auf die Festung Lötzen in Masuren verschleppt. Dabei wurde ich von meiner Mutti und meinen Geschwistern getrennt.
Meine Freundin Helga Sagromski und ich kamen zum Arbeitseinsatz auf die Festung und blieben da etwa ein Jahr. Ich war ein Nadschelnik (Vorarbeiter) und habe versucht Russisch zu lernen, die Russen nannten mich Dergutschka (Kind), weil ich so schmächtig war. Helga war kräftiger und sehr geschickt, konnte Wäsche waschen und den Russen Kartoffelsuppe kochen. Wir beide standen unter dem persönlichen Schutz eines Aufsehers und waren so vor Übergriffen durch die russischen Soldaten sicher. |
![]() |
![]() |
Im Frühjahr 1946, als der Kommandant einmal nicht in der Festung war, brachte uns der Aufseher heimlich in einem Geländewagen aus der Festung. Tagsüber versteckten wir uns in verlassenen Hütten, nachts versuchten wir, irgendwie wieder nach |
Ortelsburg zu kommen. Der Schnee war teilweise schon geschmolzen und die Straßen sehr matschig.
      Schließlich half uns ein Russe und brachte uns nach Wappendorf, wo ich meine Mutti und meine Geschwister wieder fand. Das war im März oder April 1946.
      Meine Mutti erzählte mir, dass sie und meine Geschwister bald nachdem ich von ihnen getrennt wurde, also etwa im Herbst 1945 nach Lötzen kamen. Auf der russischen Kommandantur versuchte sie, allerdings vergeblich, Auskunft über meinen Arbeitseinsatz auf der Festung zu bekommen.
      In Lötzen trafen sie meine Cousine Irma Lange, die inzwischen aus Scharfenwiese evakuiert worden war. Durch die Irma hat ihre Mutter, unsere Tante Ida, Muttis Schwester, die es inzwischen nach Essen geschafft hatte, erfahren, wo wir waren.
      Die schrieb das Ihrem Bruder, unserem Onkel Hans, nach Lebenstedt und von dem erfuhr es unser Vater, der inzwischen wohl auch in Lebenstedt gelandet war. Unser Papa hat daraufhin nach Essen geschrieben: „Ich gehe jetzt meine Familie suchen“. Wir haben aber nie wieder etwas von ihm gehört.
In Wappendorf habe ich meinem Papa einen Brief geschrieben, ihn aber nie abgeschickt.. |
![]() |
      Im August wurden wir dann von den Russen zur Roggenernte verpflichtet und wieder auf offenen Lastwagen abtransportiert. Ich hatte große Angst, erneut von meiner Familie getrennt zu werden. Zu meiner großen Erleichterung kam ich nach dem Ernteeinsatz aber wieder zurück nach Wappendorf.
      Unsere Mutti hatte bei der Kommandantur einen Ausreiseantrag gestellt und als Herkunftsadresse Essen angegeben, weil da schon ihre Schwester, unsere Tante Ida, ansässig war. Dabei hat sie meine Freundin Helga auch als ihre Tochter ausgegeben. Deren Eltern, die Sagromskis, waren schon alt und hätten wegen des polnischen Namens auch keine Ausreise bekommen.
![]() |
Mit Hilfe des Roten Kreuzes konnten wir 1947 endlich gemeinsam nach Deutschland aussiedeln und kamen in das Auffanglager Wolfen bei Bitterfeld in Sachsen-Anhalt. Hierhin kamen alle, die aus dem Osten ausgesiedelt wurden, daher der Spruch: |
"Seh’n wir uns nicht in dieser Welt, dann seh’n wir uns in Bitterfeld".
      Vom Lager kamen wir zunächst nach Schortau bei Braunsbedra, das liegt etwa auf halbem Weg zwischen Halle an der Saale und Weißenfels. Hier waren wir in einer Schule untergebracht, da war es wenigstens warm und trocken. Das Essen war immer noch knapp und unserer Mutti ging es nicht gut.
      Helga und ich wollten uns trotzdem ein bisschen amüsieren und gingen in die Bahnhofswirtschaft, wo wir einiges Aufsehen erregten - zwei junge Mädchen allein in einer Kneipe! Der Bürgermeister rief uns an seinen Tisch und wollte wissen woher wir kamen und wohin wir wollten. Helga hatte eine Schwester in Berlin-Lichtenberg, also erzählten wir, dass wir nach Berlin wollten. Der Bürgermeister gab zu bedenken, dass Berlin dicht sei und da sagte ich: "Na dann eben nach Salzgitter, da wohnt unser Onkel".
      Der Bürgermeister hat uns dann Fahrkarten besorgt und wir machten uns gemeinsam auf den Weg nach Salzgitter.
      Während wir am Bahnhof Wattenstedt auf einen Anschlusszug wartetenn, haben Helga und ich im Ort ein Weißbrot organisiert, nach den langen Entbehrungen schmeckte uns das wie Zuckerbrot.
      Der Zug fuhr dann aber nur bis Lengede Broistedt, so dass wir die 5 km bis Salzgitter Lebenstedt zu Fuss gehen mussten. Erst jetzt merkten wir dass ich den Eimer mit unserem Gepäck in Wattenstedt auf dem Bahnhof vergessen hatte, wofür ich von Mutti eine Ohrfeige bekam. Wenn ich mich recht erinnere, war das aber die Letzte, immerhin war ich schon 22.
      In Lebenstedt angekommen stand – wie aus dem Boden gewachsen – unser Cousin Richard vor uns. Er hat uns mit nach Hause genommen, in eine zwei Zimmer Wohnung in der er sich ein Zimmer mit seiner Mutter, unserer Tante Emma, auch eine von Muttis Schwestern, teilte. Im anderen Zimmer wohnten Muttis Bruder, unser Onkel Hans und seine Frau Tilly.
      Weil Lebenstedt voll war, bekamen wir keine Aufenthaltsgenehmigung. Helga und ich mussten deshalb nach Wipperfürth ins Lager. Mutti, Hilla und Helmut kamen ist Lager nach Siegen.
In Wipperfürth erhielten wir dann endlich eine Aufenthalts- und Arbeitsgeneh- migung, für Wuppertal. Ich bekam eine Stelle als ‚Mädchen für alles’ im Elek- trofachgeschäft der Familie Zeiner in Wuppertal Barmen, Helga arbeitete als Bedienung in einer Schankwirtschaft in Wuppertal Elberfeld. Wir waren endlich in Deutschland angekommen! Aber wo war unser Papa? Von Lebenstedt aus hatte er sich 1946 aufgemacht, zurück in den Osten, um seine Familie zu suchen. |
![]() |
![]() |
Was mag er auf diesem Weg alles erlebt und erlitten haben? Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. |
      Unser Papa war verschollen aber Mutti wollte ihn nicht für tot erklären lassen. Sie bekam also keine Witwenrente und – weil sie erst 57 war – auch keine eigene Rente. Selbst arbeiten konnte sie nicht, zu sehr hatten die Entbehrungen der letzen Jahre ihre Gesundheit angegriffen. Ihr Jüngster, Helmut, war erst 12 und so musste meine Schwester Hilla, auch erst 14, in die Fabrik, um den Lebensunterhalt der kleinen Familie zu sichern.
Epilog
      Tante Hilla ist jetz 92 Jahre alt und für ihr Alter noch ziemlich fit. Sie wohnt immer noch in Lendringsen, hat vier Enkel und wenn ich das richtig überblicke auch zwei Urenkel. Über die alten Zeiten von Umsiedlung, Flucht und Kinderarbeit spricht sie nur wenig.
      Ihre Tochter Birgit schickte mir neulich eine Todesanzeige von Betty Rach, der Tochter von Adolf Kuknat (* 13.8.1894 † 20.7.1964).
     
Gelegentlich hab ich Kontakt mit Arno Rabenstein, dem Sohn von Onkel Richard und Rudi Rabenstein, dem jüngsten Sohn von Onkel Hans.
      Onkel Helmut ist 2019 verstorben, anlässlich seiner Beerdigung habe ich mir den Ellenbogen gebrochen. Seine Frau, Tante Helga ist noch recht gesund und munter.
      Unsere Mutter Rita ist 2008 verstorben und wir haben sie ganz in der Nähe von Ralf in Stahmeln bei Leipzig zur letzten Ruhe gebettet. Damit sie nicht so allein ist, hat Ralf den Stein von Papas Grab in Rudow umgeestzt und um Mamas Namen ergänzt.
Bensberg bei Köln, den 1. September 2025
zurück zum Anfang? Hier klicken!
![]() |
|