Günter Siegmunds Briefe aus dem Reichs-Arbeitsdienst

Am 26. Juni 1935 wurde das 'Gesetz für den Reichsarbeitsdienst' erlassen. Im § 1 heißt es u.a. "Alle jungen Deutschen beiderlei Geschlechts sind verpflichtet, ihrem Volk im Reichsarbeitsdienst zu dienen." Unser Vater erhielt die Einberufung Anfang 1943 und musste seinen Dienst 8 Wochen vor seinem 18. Geburtstag am 1. Februar 1943 antreten, als er seine Lehre als Einzelhandelskaufmann im Sanitätshaus M. Paech gerade abgeschlossen hatte.

Mit Mutter, Schwester und einem Nachbarn vor dem Eingang zum Haus Sprengelstraße 9.


Bis Anfang 1944 schrieb er regelmäßig Briefe und Feldpostkarten an seine Mutter, die Schwester und an die Verwandten, die überwiegend in Berlin wohnten. Über 50 davon sind erhalten und auch eine große Anzahl Fotos aus dem Reichsarbeitsdienst-Lager bei Groß-Sporwitten, einer Landgemeinde im Regierungsbezirk Königsberg. Der Ort heißt heute Poddubnoje und gehört zur russischen Oblast Kaliningrad.

Brief vom 19. Februar 1943




Papas Kommentar zu diesen Fotos: "Sie sehen den AM. Günter Siegmund in den 1. Tagen seiner Dienstzeit. - Herzliche Grüße, Günter"


' ... das Lager ist ein großes Dreckloch ... '


' ... ich liege mit 14 Mann auf einer Stube, Berliner, Thüringer und Schlesier ... '


Brief vom 21. Februar 1943




' ... Gestern haben wir Drillichkleidung bekommen, Koppel, Käppi und Schaftstiefel ... '


' ... der Appetit ist gut, das Essen auch ... '


Brief vom 23. Februar 1943




' ... Was macht denn klein Wölfchen? Er erzählt wohl schon tüchig? ... '  ("Klein Wölfchen" ist der Sohn seiner Schwester Ulla und ihres Mannes Rudel. Im Februar 43 ist er etwa ein halbens Jahr alt.)

' ... Ab Montag müssen wir auch Wache schieben, also müssen wir noch an dem Gewehr ausgebildet werden ... '


' ... Der Obertruppführer erinnert mich immer an Rudl, das muss wohl auch ein Ostmärker sein ... '  (Besagter Rudl hier mit seiner Frau Ulla im Sommer 1942 auf Hochreith.)


Brief vom 12. März 1943






' ... Nun schnell gewaschen, Zähne geputzt, Hemd an und raus ... ' ' ... Wir drehen eine "Ehrenrunde" ... '




' ... Morgenapell, die Abteilung steht ... ' ' ... Mit Spaten zum Ordnungsdienst raus ... '




' ... Man will hier nicht glauben, dass ich das bin, lass man noch melche machen ... ' ' ... Grüße auch klein Wolfi, er kann schon schön schreiben ... '



' ... Jetzt könnt ihr 'mal sehen, wie wir springen können ... '


Brief vom 4. April 1943




'... Kurzes haben mir auch geschrieben, ... aber nicht zum Geburtstag gratuliert ...' Gemeint sind Selma und Alfred Kurze mit Sohn Martin. Tante Selma ist die jüngste Schwester von unserem Urgroßvater Otto Siegmund, Martin also Papas Cousin. Später wird er mein Patenonkel, schenkt mir eine Mandoline und zieht nach 'Westdeutschland', wo er leider langsam aus unserem Leben verschwindet.





' ... Eben war ich auf Trupp 2, da haben sich die Jungs ein Reibeisen gemacht ... ' ' ... Ich habe im Tagesraum gesessen und Radio gehört ... '



' ... Heute hatten wir Zeug-Apell ... '


Brief vom 8. Mai 1943




Plock an der Weichsel (1941–1945 Schröttersburg) ist ein polnisches Städtchen in der Woiwodschaft Masowien etwa 100 km nordwestlich von Warschau.






' ... Wir haben jetzt ein ruhiges Leben ... '


' ... Heute Abend ist Abschiedsfeier ... '


Brief vom 17. Juni 1943










Was hier aussieht, wie das Schulsportfest einer höheren Jahrgangsstufe, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass es eines der erklärten Ziele des 'Arbeitsdienstes' war, die militärischen Beschränkungen des Versailler Vertrages zu umgehen.

Noch im August 1933 gab es vom thüringischen Innenministerium die Anweisung, 'in den für die Öffentlichkeit bestimmten Berichten wie überhaupt in amtlichen Verlautbarungen alles zu unterlassen, woraus entnommen werden könnte, als ob in den Arbeitsdienstlagern eine militärische Ausbildung stattfände.' 10 Jahre später war diese Schamhaftigkeit wohl 'überwunden', denn unser Vater schrieb völlig unzensiert von der Ausbildung am '98er Gewehr', einem Mehrladegewehr basierend auf dem Verschlusssystem des deutschen Waffenherstellers Mauser, eingeführt bereits 1898.

Und schon ein Jahr später, nach dem Attentat vom 20. Juli 1944, wurde dem RAD, um die Ausbildungszeit bei der Truppe zu verkürzen, die 6-wöchige militärische Grundausbildung am Gewehr auch ganz offiziell übertragen.

Während die ersten Briefe noch eine Anflug von Begeisterung erkennen lassen ('alles ganz ruhige Jungs, alles prima Kerls'), gerät ab Mitte des Jahres das Kriegsgeschehen deutlich stärker ins Blickfeld. Zu Hause ist die Versorgung nur noch unzureichend, Tauschgeschäfte müssen organisert und 'Fress'pakete auf den Weg gebracht werden.

'... Ich habe gehört,die Tommies haben den ganzen Norden [von Berlin] heimgesucht, Schering ist auch getroffen ...' - In meinen Ohren klingt das wie das Pfeifen im Wald, vom väterlichen Wohnhaus in der Tegeler Straße bis zu den Betriebsgebäuden von Schering in der Müllerstraße sind es Luftlinie keine 1000 Meter. Dass das Eckhaus Tegeler/Sprengelstraße bei Kriegsende noch bewohnbar war, ist fast schon ein Wunder.



Brief vom 11. Juli 1943







' ... ich musste Dienst schieben ... '

Der im Brief erwähnte Horst Luchterhand ist der Sohn von Tante Betty, Omas Freundin seit ihrer gemeinsamen Kindheit in Gützkow. Tante Betty war mit Onkel Paul verheiratet und die beiden hatten einen Schrebergarten in Niederschönhausen im Nordosten Berlins. In dem Garten wucherten rote und weiße Johannisbberen und ich kann mich an keinen sommerlichen Besuch erinnern, der nicht mit einem Sonnenbrand endete.

Horst, für mich war das 'Herr Luchterhand', war von Beruf Schauspieler. Dass der offensichtlich auch bei Pech gearbeitet hat, habe ich erst durch diesen Brief erfahren.

Herr Luchterhand war mit einer Irma verheiratet, die reparierte Nylonstrümpfe, was nach dem Krieg ein ziemlich einträgliches Geschäft war, vor allem weil sie es in Ostberlin betrieb, während ihre Kundinnen meist aus Westberlin kamenund und mit Westgeld bezahlten.

Beide hatten einen Sohn, der auch auf den Namen Ralf hörte. Der war etwa in meinem Alter, wir haben uns aber nur gelegentlich im Garten seiner Großeltern getroffen.



Brief vom 16. Juli 1943




Ein 'Glienick' gibt es an allen vier "Ecken" Berlins. Das Glienicke, das hier gemeint ist, liegt an der nördlichen Stadtgrenze Berlins und gehörte nach dem Krieg zur DDR. Die Gemeinde grenzt im Süden und Westen an die Berlin-Reinickendorfer Ortsteile Frohnau, Hermsdorf und Lübars, die während der deutschen Teilung zu Westberlin gehörten.

Tante Selma und Onkel Alfred wohnten in Glienicke, aber auch Tante Ulla und Onkel Rudl hat da ihr Domizil.




In diesem Gartenhaus in Glienicke wohnten Tante Ulla und Onkel Rudl nach ihrer Hochzeit 1942


Brief vom 25. Juli 1943




Unter dem Codenamen "Operation Gomorrha"starteten die Alliierten Luftverbände in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943 eine Reihe von schweren Luftangriffen auf die Hamburger Stadtteile Altona, Eimsbüttel und Hoheluft. Flächenbrände verwüsteten alles, Häuser, Straßen, Menschen.

Heimtückisch waren die Sprengbomben mit Zeitzünder, die erst detonierten als die Menschen nach der Entwarnung die Schutzräume verließen und in den Straßen versuchten zu retten, was noch zu retten war.

Im Juli 1943 begann mit der Invasion Siziliens auch der alliierte Vormarsch in Intalien.



Brief vom 13. September 1943




Fritz Wegner auf der Hochzeit von Tante Ulla und Onkel Rudl am 7. März 1942.


Fritz Wegner war der älteste Sohn von Oma Klaras ältester Schwester Lina, die nach der Geburt ihres vierten Kindes verstarb. Den Witwer heiratete dann ihre Schwester Marie, die ihrersetis noch drei Kinder zur Welt brachte. Das älteste ihrer Kinder wurde auf den Namen 'Heinrich' getauft, wir, also Ralf und ich, kannten ihn als den blinden Onkel Heinz.




Erntedankfest in Mauernhausen, einem Ortsteil von Schröttersburg.


Brief vom 3. Oktober 1943




Das Geburtstagskind Ulla in der Tegeler Straße Ecke Sprengelstraße vor dem Haus Tegelerstraße 32. Links im Hintergrund ist die Fassade der Gebrüder Grimm Schule gerade noch erkennbar. Rudl ist leider nicht bei ihr, der ist dienstlich in posener Landkreis Schrimm, während des Zweiten Weltkrieges eine deutsche Verwaltungseinheit im besetzten Polen.


'... ja, ich bin nun Grenadier oder besser gesagt Rekrut ...'


Helmut und Ruth, die noch mal ganz schön gegrüßt werden sollen, sind Papas Cousin Helmut Paris und seine Frau. Helmut ist der Sohn von Martha, der älteren Schwester unseres Großvaters Otto.




' ... auf unserer Stube liegen noch drei ältere Kameraden vom Jahrgang 07, 08 und 09 ... '


Brief vom 19. Oktober 1943




' ... Nächsten Sonntag werde ich wohl nicht mehr hier sein. Die KLamotten sind schon gepackt ... '



Brief vom 23. Oktober 1943




'Wenn Du wieder zu Tante Anni kommst ...' Gemeint ist Omas älteste Schwester, die ist mit Otto Rothe verheiratet, der hat auch ein Zigarrengeschäft, wie unser Großvater Otto Siegmund, der zu diesem Zeitpunkt allerdings schon seit fünf Jahre versorben ist und sein Geschäft schon einige Jahre vor seinem Tod aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste.

Ironie des Schicksals: unser Großvater erkrankte an einem 'Raucherbein', ein langes, qualvolles Sterben.





Das Zigarrengeschäft unseres Großvaters in der Berlin-Weddinger Reinickendorfer Straße 106 - um 1929 Tante Anni und Onkel Otto - 1963


Brief vom 14. November 1943





'... Es ist gemütlich hier, hoffentlich bleiben wir hier für immer ...'

'Nun liebe Mutti, muss ich mal über etwas mit Dir reden, weißt Du, ich habe da im R.A.D. doch ein Mädel kennen gelernt. - Und mit der schreibe ich mich doch schon so lange ... Ihre Heimat ist Litauen ...'





Handschriftliche Notiz auf der Rückseite des Bildes: 'In unserem Arbeitszeug der erste Gang zum Bauer. - Ebenau 16. 6. 43' Handschriftliche Notiz auf der Rückseite des Bildes: "Recht oft denke an die Arbeitsmaid Rita - Ebenau 7. 10. 43"


Ebenau, bis 1938 Wolla, polnisch Wolnoje, gehört heute zur Stadtgemeinde Schelesnodoroschny im russischen Rajon Prawdinsk. Damals gehörte der Ort zur Landgemeinde Groß Sporwitten. Irgendwo da müssen sich unsere Eltern das erste mal begegnet sein, acht Jahre später haben sie geheiratet.



Zitat aus dem hier nicht abgebildeten Brief vom 6. 12. 1943: 'Habe jetzt immer wenig Zeit, ist viel Dienst. Nachher fährt wieder ein Kamerad auf Urlaub. Ist auch Bombenbeschädigter. Hat polizeiliche Bestätigung.'




Brief vom 25. Dezember 1943




Vermerk auf der Rückseite des Bildes:

Zur Erinnerung an die Mädel aus Scharfenwiese

Scharfenwiese den 6. 12. 43

'... Rita hat auch geschrieben, sie schreibt fast täglich und so nette Briefe ...'


... und wie ist es weiter gegangen?



Einen Brief schreibt unser Papa noch vor dem Jahreswechsel: "Sylvester stoßen wir auf unser aller Wohl an, Mutti. - Wünsche Euch nochmal ein recht frohes und gesundes neuees Jahr und das wir uns bald wieder sehen."

Dieser Wunsch muss wohl in Erfüllung gegangen sein, denn in dem letzten Brief, vom 31.01.1944, schreibt er: "Habe lange keine Post von Euch bekommen. Seit meinem Urlaub überhaupt noch nicht. Was ist denn das wieder? Ihr seid ganz schön faul geworden."

Papa wird bis zum Ende des Krieges in Dänemark bleiben, wo er unter anderem in Billund stationiert war. - Billund, wo die von mir so heiß gliebten Legosteine erfunden worden waren.



Im Fotoalbum mit dem Vermerk 'Dänemark 1944' versehen

Wäre er doch auch in Dänemark geblieben, als der Krieg zu Ende war. Aber er wähnte seine Mutti allein in Berlin und wollte zu ihr. - Er schaffte es immerhin bis an die Elbe, da fiel er den Soldaten der Sowjetarmee in die Hände und wurde in das Kriegsgefangenen-Lager 199 nach Nowosibirsk gebracht.

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion entwickelte die Stadt sich zu einem Rüstungszentrum. Auch die Kriegsgefangenen wurden in den metallverarbeitenden Werken eingesetzt. Die Arbeitsbedingungen müssen unmenschlich gewesen sein.

Dabei war unsere Oma zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr in Berlin. Als AEG Angestellte wurde sie ins fränkischen Lichtenfels versetzt, wo Granaten und allerlei anderes Kriegsgerät hergestellt wurde.

Noch im September 1945 schrieb die Tochter an ihre Mutter: "Hoffentlich hat Dich einer von den 3 Briefen, die ich bisher abschicken konnte, erreicht. Ich weiß ja nicht ob in Bayern schon die Post geht. ... In Lichtenfels wird es im Winter nicht schön sein, aber glaube mir in Berlin wäre es viel schlimmer."

Vage in Erinnerung ist mir ihre Erzählung, dass sie sich von Lichtenfels nach Berlin zu Fuß aufmachte und schließlich tatsächlich bis die die Tegeler Straße gelangte, wo sie wundersamer Weise auch wieder ihre Wohnung in der Sprengelstraß 9 beziehen konnte. Nur von ihrem Sohn fehlte jede Spur und Nachricht.

Trost und Unterstützung erfuhr sie in dieser Zeit durch ihren Neffen Heinz Wegner, der damals noch nicht völlig erblindet war.

Ihr Sohn durfte nach 4 Jahren Gefangenschaft 1949 endlich wieder nach Hause und war froh, dass er das Nest nicht leer vorfand. Wie er und 'seine' Rita sich wieder trafen, ist eine Geschichte, die noch zu erzählen sein wird.

Klara Siegmund - 1944 Günter Siegmund - 1949


Günter Siegmund verstarb am 25. November 1971 - seine Mutter folgte ihm am 28. Januar 1978.





Liste der hier abgebildeten Briefe


Brief vom 19. Februar
Brief vom 21. Februar
Brief vom 23. Februar
Brief vom 12. März
Brief vom 4. April
Brief vom 8. Mai
Brief vom 17. Juni
Brief vom 11. Juli
Brief vom 16. Juli
Brief vom 25. Juli
Brief vom 13. September
Brief vom 3. Oktober
Brief vom 19. Oktober
Brief vom 23. Oktober
Brief vom 14. November
Brief vom 25. Dezember




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Was es sonst noch zu erzählen gibt ...